POETRY SLAM TEXTE UND VIDEOS VON 2013-2014

Frank Klötgen: Die Nussholzkassette der Villa von Brauchwitz

Die Nussholzkassette der Villa von Brauchwitz

Der Tag schien schon tristesseverhangen,
Von keinem Strahl noch aufzuhell'n,
Da ward ein Telegramm empfangen –
Ich zitiere hier kurz die entscheidenden Stell'n:

"Blablabla ...bald schon wieder ein Jahr fast vergangen,
In dem sich doch einiges zugetragen.
Sicher gab's Gründe, die Sie dazu zwangen!
Erlauben Sie dennoch uns, höflich zu fragen –
Die wir Ihre Kunst ja seit ehedem preisen –
Ob Sie uns wohl heute die Ehre erweisen
Zu einem Gespräche beim Nachmittagstee?
Herzlich, Familie von Brauchwitz zu W."

(Nun wär' solch Gesuch von den werten Mäzenen –
Den geldgewähr'nden Geltungskranken –
Weder im Buch noch per Vers zu erwähnen –
Da langt es auch, sich einmal kurz zu bedanken!
Man sollt' sich 'nem lästigen Zwange im Leben
Keineswegs unnötig lange ergeben ...
Ach, Kunst backt sich aus trüben Teigen,
Über die wir lieber schweigen!)

Obwohl ich vor Treffen bei Brauchwitz mich grause –
Vor jedem Wort, das dort erzählt –
So gibt es doch in diesem Hause
Ein Kleinod, das wie auserwählt
Den Auren von Ären die Fährten auslegt.
Ein Möbel voll Vergangenheit,
Das fast schon verlorene Ahnungen hegt
Und narrativ nachhallt in unsere Zeit.

Die Nussholzkassette im Billardsalon
Der Villa von Brauchwitz stillt alle Passion –
Schon wähnst Du Dich, Suchender, plötzlich am Ziel
Nach oftmals vergeblichem Ringen um Stil –
Inmitten der von Gen'rationen gesäten
Erbmassenmasse an Antiquitäten –
Epochenentkrochenen Nachbauhommagen,
Die sich im Haus stapeln in allen Etagen
Zu einer Melange aus "Gemach!" und "Isch schwör!" –
Wenig integer als Wohninterieur.
Umso stolzer thront dort jene Nussholzpreziose,
Preist ihres Meisters weise Hand –
Erweist sich doch das Körperlose
Als einzig verbindlich im Wertbestand.
Und birgt nicht jene hölzerne Hülle
Der wohl größten Leere Fülle?

In dem Nichts ihres Inhalts ist alles vorhanden:
Die Linienschifffahrt, das erleichterte Landen
In damals erst noch zu entdeckenden Städten –
Als Heimstatt der Fertigung solcher Kassetten,
Die Zuckereinkäufer vom Peak ihrer Reise
Als Zwischengruß an ihr Daheim einst versandten.
Ein Dolmetscher mahnt: "Überzogene Preise!" –
Im Brief steht: "Ein Gepard! Und zwei Elefanten"
Und "Hochebenen einer anderen Welt",
"Ein endlos weites Erdbeerfeld",
Auch "flussmündungsmüde den Yangtse hinauf" –
In Überseekisten, mit Frachtmarken drauf –
"Ein ausgestopftes Krokodil" –
Ursprungshafen Brazzaville –
"Obgleich auch des Spediteurs schiefes Gesicht
In diesem Punkt nicht sehr viel Hoffnung verspricht,
Verstaute ich noch eine Edelsteinkette
Im inneren Schubfach der Nussholzkassette,
Da ich, von Dir träumend, vor Sehnsucht vergeh'!
Dein innig Dich liebender Bodo von B."

Und man spürt doch klar:
Es ist alles noch da.
Es blieb und häuft sich an in ihr –
Das arg vertraut Erdige, heiß Ungebärdige –
Einstmaligkeit liegt versammelt im Hier.

Ist's Erlauchtheit – ist's Trug, dem ich sehnsuchtsschwer aufsitz'?
Es zieht mich dorthin, in die Villa von Brauchwitz,
Zur Nussholzkassette, die als Solitär
Entfaltet den rettenden Resthauch an Flair.
Intarsienbestückt und rosettengeschmückt,
Mit wohlfeil geschmiedetem Riemenbeschlage –
Die in ihr gewirkte Geschichte entzückt
Und stemmt den Rekurs auf vergangene Tage.
Auch das Dereinstige windet uns an,
Die Zeit, die im Lidstrich der Maserung weilt ...
Ertaste die Spur eines Astlochs und dann
Verspürst Du, wohin unser Dasein enteilt!
Denn schon ist das uns so Präsente Geschichte –
Noch eben mit so viel Bedeutung verwebt –
Wird aufgesaugt von der historischen Dichte,
Die jene Kassette hat schadlos durchlebt.

Vor der Langmut des Holzes muss alles verstummen:
Das jähe Heureka, das zähe Verdummen,
Facebookskandale und Angelo Merkel –
Was hat dieses Möbel nicht alles geseh'n?
Louis Pasteur auf der Spur vom Tuberkel,
Das uns längst vertrauter Ideen Entsteh'n.
Im ewigen Nussholz verstetigt sich Zeit –
Doch es vergegenwärtigt auch Hinfälligkeit:
Denn wir, nun, wir verbleiben flüchtig,
Scheiternd und vergnügungssüchtig –
Und alles, was ich je an Werk fabriziert,
Wird, niemals gelistet in Mythen des Erbens,
Von 2.000 Grad heißem Feuer kremiert
Und gänzlich verschluckt von der Plumpheit des Sterbens.

Fast spöttisch entgegnet dem eignen Verdunkeln
Des Möbelstücks kaleidoskopisches Funkeln ...!

Bald spiegelt sich ein ferner Tag
In seinem metallischen Riemenbeschlag,
Der, geschwärzt, sich mit Glanze Entwachsenem eint,
Vom schwärenden Visionären umweht,
Das sich dem Empfindsamen mitzuteil'n scheint,
Sobald man den Schlüssel des Hauptfaches dreht.

Wenn der Riegel aus dem Schließspalt schnappt,
Und verschluckt klingt ein Klacken im Inn'ren vom Schloss,
Der Deckel weich nach hinten klappt,
Dann schmeichelt Mechanik der Anmut. Genoss
Nicht der staunende Lehrling den Handstreich des Meisters?
Mittels dessen das Holz sich dem Genius fügt
Und der Kunstfertigkeit sich verschwört zum Beweis, dass
Nur das überdauert, was Sinne vergnügt.
Mir wird solch Fundierendes niemals gelingen –
So bleibt nur der Frevel, es doch zu erzwingen!

Einen Wimpernschlag später befind' ich mich schon,
Vom Hausherrn geleitet, im Billardsalon
Der Villa von Brauchwitz, der heiligen Stätte
Der tischsetgebetteten Nussholzkassette.

Von Brauchwitz erbittet sich Unhöflichkeit –
Es fehlten Thérèse, seiner Gattin, der Guten,
Bedingt durch mein Kommen so weit vor der Zeit,
Rund fünf für die Herrichtung nöt'ge Minuten.
Es sei ihr selbstredend höchst unangenehm ...
"Vielleicht machen Sie's sich hier kurz noch bequem?
Ich werde Thérèse gern gemahn'n, sich zu sputen!
Mein Lieber, Sie kenn'n ja die Damen, die guten ..."

Und endlich allein, schreit' ich zum Kabinett
Über das quarrende Fischgrätparkett,
Denn im Zentrum der Anrichte, dort residiert,
Was gleich meine Faszinationen verziert,
Als ob ich mich nie von hier fortbewegt hätte:
Die unverwandt strahlende Nussholzkassette –
Als eine der spirituellen Konstanten
Von menschlicher Vorstellungswelten Atlanten.

Es löst sich der Deckel, er gähnt wehes Rufen
Und öffnet sich mit falsettierendem Schnarren –
Gleich wie zum Protest derer, die all dies schufen –
Das lässt mich kurz in meiner Absicht erstarren ...
Dann zück' ich die blitzende Ahle und ritz'
Einen kreischenden Kratzer hinein ins Verwehrte,
Dass ich nun mein Plätzchen im Edlen besitz' –
Das jetzt schon von komm'nden Dekaden Verehrte.
Und blutendes Holz ächzt: "Du bist mit dabei!"
Und sei es durch ahlige Hochstapelei –
Durch die ich nun eintauch' und schlitzend mich bette
Ins Inn're der Brauchwitzen Nussholzkassette!

Aus welcher sich scheu eine Fluse erhebt –
Die, von Thermik getrieben, zum Fenster raustrottet –
Leichte Winde umschmusend, dem Sommer entschwebt,
Schon bald allem Halt der Beobachtung spottet,
Bald völlig den folgenden Blicken entschwindet
Und – nach nirgendwo taumelnd – die Physis verwindet ...

Grade übte die Luft sich im Flusen Bepüsteln –
Schon formt sie ein Kehlkopf zu forderndem Hüsteln:
Ich bin nicht mehr allein im Salon.

Hinter mir sammeln sich Wispern und Flüstern,
Und aus aller Zeit formt sich ein Bataillon –
Dort steh'n unter derer von Brauchwitzen Lüstern:
Der schiefgesichtige Spediteur,
Herr Angelo Merkel und Louis Pasteur,
Ein Dolmetscher, sich in den Handel einmischend,
Mark Zuckerberg, selig sein Smartphone bewischend,
Ein zwitschernder Schwarm arm verstorbener Dichter,
Von wahrer Geschichte bewahrte Gesichter,
Auch ungestüme Staatenlenker,
Stumm geführt vom Trupp der Denker;
Da steh'n Zuckerrohrfarmer, Plantagenbesitzer
Und ich, als gewöhnlicher Holzkerbenschnitzer –
Der Welt nun erhältlich als schwindender Sprung
Im Sargholz der Erinnerung.

Es schien der Tag tristesseverhangen,
Von jedem Strahl zu weit entfernt –
Da ward die eine Tat begangen,
Damit die Welt das eine lernt:
Nichts mäßigt wohl besser des Maßlosen Stolz
Als ein maßangefertigtes Kästchen aus Holz.


- elftes Gedicht/Aufnahme 2013-2014



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