POETRY SLAM TEXTE UND VIDEOS VON 2008-2010

Frank Klötgen: Kind und Mutter

Kind und Mutter (Ripostegedicht auf "Mutter und Kind" von Clemens Brentano)

Oh Clemens, die Demenz schwelt sich durch mein Hirn
keine Mens verbleibt mir im Corpore Sano
Das Vergessen lodert dort hinter der Stirn
und der Rest vom Kopf brennt aa no'

Spürst du, wie uns die Zeit verglüht?
Komm, Kind, herbei und wärm dich!
Denn noch erhitzt sich das Gemüt
vom Mütterlein Erbärmlich

Ach, der Pflegedienst klagt, ich würd' nicht genug wiegen
Mein Clemens, das ahnt' ich doch nicht, Kind, verzeih!
Denk nich', 's würd' am fehlenden Wagemut liegen –
nur brach die Zerrüttung das Wieglein entzwei!

Und kein Klammerreim fügt es uns wieder zusammen
nein, ewig drischt der Kreuzreim drein!
Das Wissen, von mir abzustammen
nun ruht es bald in dir allein

Kann über deinen Schlaf nicht wachen
ohn' Geistesgegenwärtigkeit
Schon schluckt dein helles Kinderlachen
ein Wall von reinster Dunkelheit

Mein Großer, jetzt wirst du erwachsen
bliebst ja das Kind in all den Jahr'n
Wirst du auch brav und ohne Faxen
den Nabel deiner Ma bewahr'n?

Den Vorwurf, der sich gut erzogen
den Vorhof, der dich früh gestillt?
Dich vordersten Lebensempfänger im Rogen
Kein Nagel hält uns dieses Bild

Schon stibitzt ist das Skizzengerüst deiner Kindheit
und farblos verloren der Grundton des Reifens
Uns beide schlägt festplattencrashende Blindheit
wir tapern im Nichts beim Versuch des Ergreifens

Was du warst, hab' ich vergessen
wie du's wurdest obendrein!
Im leeren Archiv modert mottenzerfressen
der Geist von deinem Mütterlein

Von irgendwoher blitzt ein flüchtiger Gruß
Ach, die Jahre – die Jahre versiegten doch jäh
Rasant verschwanden der Grip des Who's Whos
und dann all der Verstand, nur: Nun stirbt's sich so zäh

Mein Leben, das sich spargeflammt
hell lodernd ziert zu weichen
und mich zu leerem Spiel verdammt
als würd's nicht langsam reichen

Ach Clemens, die Demenz brennt lichterloh
schwärzt die Reste vom unlängst verlor'nen Vermächtnis!
Nur Grauen blinkt noch farbenfroh
und verwischt die Gewähr, was hier Trug und was echt is'

So lallt zu dir mein frommes Herz
vermag nicht mehr zu sprechen
blickt stumm zu dir, blickt himmelwärts
und kann und kann nicht brechen

Bricht nicht in Schmerz, bricht nicht in Leid
und brach doch längst uns beiden
nahm mir das Selbst schon vor der Zeit
und dir auch allerlei, denn:

Dein Leben winkt zum Abschied dir
wenn ich der Welt einteil'
dann geht nicht nur ein Stück von dir
Es fehlt der ganze erste Teil


- neunzehntes Gedicht/Aufnahme 2008-2010



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