Die Brockenzunge
»Er ist dann hinterher gestorben« so umgeht man in unseren unseligen
Tagen das tragikverwöhnte Ende eines Menschen, der zeit seines Lebens
nur Randplätze säuberte. Kein falsches Mitleid, selbstverständlich! Nur es
sollte doch noch gesagt werden: Er war so ungefähr zur Volljährigkeit herangewachsen, als es aussetzte. Nicht wahr, solange es funktioniert, denkt
man gar nicht daran, dass es auch einmal nicht funktionieren könnte?! Irgendwann aber setzte es aus bei ihm, sei es aus Speichelmangel, Lähmung
oder unzureichende Hygiene irgendwann stoppte seine Zunge ihren
Selbstreinigungsmechanismus, wurde träge und in der Folge verdreckt.
Wer macht so was schon gerne publik? Er jedenfalls nicht. Als sich nun
aber ein Wulst von Speiseresten an jenem bei näherer Betrachtung doch
äußerst seltsamen Organ angesammelt hatte und fest in die Krusten des
spröde gewordenen Zungenfleisches eingepappt war da musste er raus
mit der Sache, da kam die Sache von selbst ans Tageslicht.
Nun, sind wir ehrlich, wer schließt schon gerne Freundschaft mit Menschen, denen eine verderbende Speiserestzunge aus dem Maul hängt? Das
erklärt den Werdegang. Geächtet, gemieden und auch vor den Toren des
Schwimmbads hieß es regelmäßig: »Stopp! So können Sie hier aber nicht
hinein!« Dass der Brocken weiter heranwuchs, war ein Zeichen früher
Selbstaufgabe schließlich ist ein Tropf heutzutage kein Unding mehr. Er
aber mühte sich weiter ab, stopfte und pfropfte wider jede Verstandesregung täglich neue Nahrung durch den sich stetig verengenden Spalt zwischen Zungenbrocken und Oberlippchen.
Dabei ging natürlich die Hälfte daneben. Sagte ich »die Hälfte«? Man
erzählt sich, er habe in den letzten Tagen so gut wie nichts mehr zu sich
nehmen können. Aber zu jener Zeit begnügte er sich ohnehin damit, Randplätze zu säubern. Er ließ das Ungetüm raushängen und den Zungenbrocken in der Sonne glitzern zum Gespött der Schulkinder und als Mahnmal der Altphilologen: »So endste auch mal, wenne dir die Sauwörter
nich ausjewöhnen willz!«
Sie denken jetzt vermutlich, Großmut wäre hier vonnöten gewesen?
Ich werde Ihnen zeigen, wohin Großmut führt: Es war unbeständiges
Wetter und das Schwimmbad menschenleer, da beschloss die Kassenfrau
Vera der bettelnden Brockenzunge Einlass zu gewähren, da ja niemand
anwesend war, der sich deswegen hätte beschweren können und sie ihn,
wie sie später meinte, vortäuschen zu müssen, »wegen seines beständigen
und doch so aussichtslosen Einreihens in die Besucherschlangen ein klein
wenig lieb gewonnen« hatte. Faustdick war der Zungenbrocken zu jener
Zeit, sagt man sich.
Wissen Sie, wie dehnbar so eine Zunge ist? Nicht so sehr. Als die Brockenzunge vom Drei-Meter-Brett gesprungen ist, haben ihm Aufprall
und Wasserwiderstand das Ding aus dem Schlund gerissen. Er ist dann
hinterher gestorben.
Aber das erwähnte ich eingangs ja bereits und möchte daher lieber mit
ein paar Empfehlungen schließen: Beladen Sie Ihre Zunge nicht unnötig
mit Worten, steigen Sie stets vom Beckenrand ins Wasser und verkaufen
Sie Ihre Kinder nicht an Menschen, die ein böses Funkeln in den Augen
tragen. Dann werden Sie Gelegenheit erhalten, Ihr Leben bis an den Rand
der Unsterblichkeit zu verlängern, falls da überhaupt Interesse besteht.