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Frank Klötgen: Die Brockenzunge

Die Brockenzunge

»Er ist dann hinterher gestorben« – so umgeht man in unseren unseligen Tagen das tragikverwöhnte Ende eines Menschen, der zeit seines Lebens nur Randplätze säuberte. Kein falsches Mitleid, selbstverständlich! Nur es sollte doch noch gesagt werden: Er war so ungefähr zur Volljährigkeit herangewachsen, als es aussetzte. Nicht wahr, solange es funktioniert, denkt man gar nicht daran, dass es auch einmal nicht funktionieren könnte?! Irgendwann aber setzte es aus bei ihm, sei es aus Speichelmangel, Lähmung oder unzureichende Hygiene – irgendwann stoppte seine Zunge ihren Selbstreinigungsmechanismus, wurde träge und in der Folge verdreckt.

Wer macht so was schon gerne publik? Er jedenfalls nicht. Als sich nun aber ein Wulst von Speiseresten an jenem – bei näherer Betrachtung doch äußerst seltsamen – Organ angesammelt hatte und fest in die Krusten des spröde gewordenen Zungenfleisches eingepappt war – da musste er raus mit der Sache, da kam die Sache von selbst ans Tageslicht.

Nun, sind wir ehrlich, wer schließt schon gerne Freundschaft mit Menschen, denen eine verderbende Speiserestzunge aus dem Maul hängt? Das erklärt den Werdegang. Geächtet, gemieden und auch vor den Toren des Schwimmbads hieß es regelmäßig: »Stopp! So können Sie hier aber nicht hinein!« Dass der Brocken weiter heranwuchs, war ein Zeichen früher Selbstaufgabe – schließlich ist ein Tropf heutzutage kein Unding mehr. Er aber mühte sich weiter ab, stopfte und pfropfte wider jede Verstandesregung täglich neue Nahrung durch den sich stetig verengenden Spalt zwischen Zungenbrocken und Oberlippchen.

Dabei ging natürlich die Hälfte daneben. Sagte ich »die Hälfte«? Man erzählt sich, er habe in den letzten Tagen so gut wie nichts mehr zu sich nehmen können. Aber zu jener Zeit begnügte er sich ohnehin damit, Randplätze zu säubern. Er ließ das Ungetüm raushängen und den Zungenbrocken in der Sonne glitzern zum Gespött der Schulkinder und als Mahnmal der Altphilologen: »So end’ste auch mal, wenne dir die Sauwörter nich ausjewöhnen willz!«

Sie denken jetzt vermutlich, Großmut wäre hier vonnöten gewesen? Ich werde Ihnen zeigen, wohin Großmut führt: Es war unbeständiges Wetter und das Schwimmbad menschenleer, da beschloss die Kassenfrau Vera der bettelnden Brockenzunge Einlass zu gewähren, da ja niemand anwesend war, der sich deswegen hätte beschweren können und sie ihn, wie sie später meinte, vortäuschen zu müssen, »wegen seines beständigen und doch so aussichtslosen Einreihens in die Besucherschlangen ein klein wenig lieb gewonnen« hatte. Faustdick war der Zungenbrocken zu jener Zeit, sagt man sich.

Wissen Sie, wie dehnbar so eine Zunge ist? Nicht so sehr. Als die Brockenzunge vom Drei-Meter-Brett gesprungen ist, haben ihm Aufprall und Wasserwiderstand das Ding aus dem Schlund gerissen. Er ist dann hinterher gestorben.

Aber das erwähnte ich eingangs ja bereits und möchte daher lieber mit ein paar Empfehlungen schließen: Beladen Sie Ihre Zunge nicht unnötig mit Worten, steigen Sie stets vom Beckenrand ins Wasser und verkaufen Sie Ihre Kinder nicht an Menschen, die ein böses Funkeln in den Augen tragen. Dann werden Sie Gelegenheit erhalten, Ihr Leben bis an den Rand der Unsterblichkeit zu verlängern, falls da überhaupt Interesse besteht.

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