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Frank Klötgen: Im Haarstudio Kadaver

Im Haarstudio Kadaver

»Meinen Sie, Frisiersalon – das hätte angenehmer geklungen?« Hm. »Wissen Sie, mein Mann und ich, wir haben damals lange darüber nachgedacht, aber irgendwie waren wir ja doch sofort verliebt in Haarstudio. Vielleicht falsch.« »Nein, nein: Frisiersalon – das hätte nicht angenehmer geklungen«, sage ich, um endlich irgendetwas zu sagen. Ich muss mich vergewissern, dass ich trotz dieses neuen, mir deutlich misslungen erscheinenden Haarschnitts die Kontrolle über mich bewahrt habe. Meine Stimme klingt seltsam muffig. »Viele sagen ja, dass Kadaver ein zu problematischer Name für ein Haarstudio ist.« »Nicht unproblematisch zumindest«, entgegne ich, mich selber in derartigen Souveränitätsfloskeln nicht wiedererkennend. Mal abgesehen vom Haarschnitt. Sie kämmt mir mit kritischem Blick durchs Haar. »Jaja, aber: Seinen Nachnamen kann man sich nun mal nicht aussuchen. Und das Gedenken an meinen Gatten verbietet es mir … also, den Namen jetzt ändern – das könnt ich nicht, da käme ich mir vor wie …« »Ich habe keine Schwierigkeiten mit dem Namen«, rinnt es mir aus dem Mund. Schon eigenartig, wie man sich nach so einer Frisur verhält: Als litte man doch unter dem zerstümmelten Körperbehang, dessen Verstümmelung vielleicht nur deswegen als belanglos eingestuft wird, weil ein gekappter Nerv es versäumt, die angemessenen Schmerzimpulse an das ZNS weiterzuleiten. Und so stammle ich weiter, geschwächt durch taube Verletzungen: »Wenigstens bleibt da eine Tradition erhalten.« »Nicht wahr? Wissen Sie«, sie blickt mir durch den Spiegel direkt in die Augen, »ich habe ja noch meine alte Postleitzahl! Wenn Sie wollen, zeig ich sie Ihnen.« Ich betrachte mich im Spiegel. Eigentlich will ich ja nur nach Hause.

Ich höre, wie Frau Kadaver einen Kippschalter betätigt. Sie verschwindet in einer Tür. »Kommen Sie, kommen Sie!« Ich sehe: Hinter der Tür führt eine Treppe hinunter. Von dort blickt mir Frau Kadaver erwartungsvoll entgegen. »Ich bewahre sie hier unten auf, man weiß ja schließlich nie, ob da einer einem Ärger … – ich meine, die meisten Kunden kenne ich seit Jahren, aber es kommen da einem ja allerhand Leute ins Geschäft.« Sie geht zu einer Werkbank, zieht eine Decke beiseite, darunter: eine vierstellige Zahl. »Unsere alte Postleitzahl. Mir persönlich gefällt sie ja besser.« Sie seufzt: »War ja auch eine harte Umstellung damals. Da erinnert sich nur heutzutage niemand mehr dran, die Leute vergessen einfach zu schnell … Glauben Sie jetzt bitte nicht, mir würde da etwas Illegales … – ich meine, natürlich wusste ich, dass es neue Zahlen geben würde, aber ich habe mir gedacht, solange niemand nach der alten fragt, behalt ich die noch ein Weilchen. Das gute Stück. Wenn ich ehrlich bin – mit der neuen Zahl hab ich mich nie wirklich anfreunden können. Ein alter Baum lässt sich nun mal nicht umpflanzen, hab ich recht? Aber, sehen Sie mal hier!« Rumpelnd zieht sie eine Schublade aus der Werkbank, darinnen: Revolver. »Die sind noch von meinem Mann. Wissen Sie, nach dem Krieg, da lagen die Dinger ja hier en masse in den Straßen herum. Aber sie hätten mal versuchen sollen, eine brauchbare Schere aufzutreiben. Absolut unmöglich! Da kam meinem Mann die Idee, Frisuren zu schießen.« Was?
»Jaja, das kann sich heute kaum noch jemand vorstellen, aber es herrschte ja solch eine Not damals. Und Haare kennen nun mal keine Unterschiede. Ob Krieg oder Frieden – die wachsen … Und irgendwie mussten sie ja gestutzt werden. Natürlich war die Sache nicht ganz ungefährlich. Die Finger, verstehen Sie? Ein unachtsamer Schuss – und schon konnte es einem die Finger zerreißen. Mein Mann hat ja ganze vier Finger bei der Arbeit verloren. Und mein Mann war Profi!« Sie betont Profi, um mir irgendetwas erschließbar zu machen. Ich vermag es nicht, sie erklärt daher: »Sie können sich vorstellen, wie die Sache bei den Lehrlingen ausgesehen hat. Blut und Gejammer sage ich nur, Blut und Gejammer … aber kommen Sie, ich zeige es Ihnen! Hier, sehen Sie: unser Garten.« Sie hat eine schwere Tür geöffnet, Quietschen, Tageslicht. Vor mir: ein Garten. »Fällt Ihnen etwas auf?« Mein Blick streift leer und oberflächlich durch den Garten. Ihr zum Gefallen gebe ich meinem Desinteresse den Anschein von Unverständnis. »Dort, beim Salat!« Große Köpfe, prächtig gewachsen, in symmetrischen Reihen angeordnet, dazwischen: fahle Fingerstumpen. »Das lenkt die Schnecken ab. Die denken nämlich, zum Salat der Kadavers, da lohnt sich’s nicht hinzukriechen, da sind schon zu viele andere dran. Die Schnecken halten die Finger für Artgenossen!« »Aha?« »Ja«, sie schiebt mich Richtung Treppe. »So, jetzt muss ich aber wieder …! Aber sehen Sie: So war das damals. Ich meine, Sie als junger Mensch haben das ja nicht miterlebt. Vieles wird Ihnen da heute leichter gemacht, denke ich. Aber, was red ich groß, Sie haben ja auch Ihre Probleme, Ihre eigenen Probleme. Also, ich möchte heutzutage nicht unbedingt jung sein, wissen Sie?« »Ja.«

Ich bin wie erschlagen, wanke die Stufen hinauf, zahle und verabschiede mich höflich. »Deine Kröten sind bei mir in guten Händen, Jung!« flüstert sie mir zu und leckt sich die Lippen. Als ich den Salon verlasse, atme ich befreit ein. Frau Kadaver winkt. Es ist schon so, dass ein neuer Haarschnitt einen anderen Menschen aus einem macht.

- neunter Text/Aufnahme 2007 und früher



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