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Frank Klötgen: Muckefuck

Muckefuck

An mauen Sommerabenden trete ich ans Fenster, öffne dieses, krempele die Ärmel meines Longsleeves bis unter die Achseln, strecke beide Arme von mir in die Abendluft und füttere die Mücken. Zeichen setzen in Zeiten, da Tierärzte und Latrinenlateiner den Geltungsbereich des hippokratischen Eides auf Pferde und pferdeähnliche Domestizierungsdoofpaddelarten wie Hund, Katz und Harzer Roller-Kanarie begrenzen, aber einem sorgsam aus den klebrigen Fängen eines Spinnennetzes herausgetrennten Mückenflügel die Behandlung verweigern. Rassismus beginnt nicht nur im Kleinen, er beginnt vor allem auch bei den Kleinen. Und wer ist denn heute noch bereit, dem feingliedrigen Schwirrgetier seinen kleinen Finger mit beiden Armen zu reichen? Wer lässt den kleinen Muck ums Stich und Stech das Rüsselchen durch seine Epidermien drücken, bohren, picken und mit Sog und Saug am Blute laben?
Keener. Aber mit die Scheißtölen durche Gegend, diss könn’se …

Dabei gibt es keine dankbareren Wesen als jene hochtönig sirrenden Fluginsekten und welcher Dank manifestiert sich schon derart schnell wie jene fröhlich juckenden Quaddeln, die sich Beule um Beule aneinanderreihen, bis selbst die findigste Mücke keine Einstechmöglichkeit mehr auf meinen Armen findet als die, in das bereits geschwollene Stichödem eines Vorgängers hineinzustechen, dass sich Stich auf Stich türmt zu einem quaddeligen Gebirgszug, aus dem die Kleinen bald weniger Blut als Speichelsekret ihrer Artgenossen schlürfen und so eine Art intrakommunikativen Austausch betreiben, der die Viecher noch stechwütiger und mitteilungsbedürftiger macht und so stehe ich da in meinem Fensterrahmen – als zweimastiger Funkturm der Mückenkommunikation Berlin-Friedrichshain.

Bis sich irgendwann meine Arme in ihrer x-fach potenzierten Schwellung derart aufgeblasen haben, dass ich sie kaum durch den Fensterrahmen hinein ins Heim zu zerren vermag, da sie sich beim Rückzug wie ein schmusendes Zeppelinpaar ineinander verkeilen. Prall gefüllte Riesenwürste, deren Haut sich unter der Anspannung porzellanen ausfärbt und die Aderstränge wie eingefrorene Blitze aufflammen lässt.

Und dann kratzen. Kratzen, kratzen, bis der Schmerz die Juckattacke übertüncht. Kratzen, kratzen, kratzen, dabei auf die Uhr geguckt und:
Um 20 Uhr macht Kaiser’s dicht, bleibt nur ’ne halbe Stund! Oh.

Wenn ich mit meinen turmgroßen Armwürsten im Kassengang bei Kaiser’s zwischen den vergitterten Zigarettenrolladenschränken entlangrattere, genieße ich es, wie die schartigen Verstrebungen des kühlen Gitters in meine juckgeplagte Haut kritzeln und werde von der verantwortlichen Kassiererin herzlich begrüßt, das »… mit den dicken Ärmchen sehe doch allzu niedlich aus, michelinesk, ja, an die putzigen Barbarpapas« erinnernd und auch wenn ich keine Herzen sammeln würde, ihres hätte ich auf diese Weise schon ein klein wenig gewonnen, und schwärmt so hin und mir vor, bis dass sich aus der Warteschlange der bärbeißige Kommentar äußert, dass der Dicke doch bitte nicht weiterhin den Kassierbereich blockieren möge und sich mein bislang unauffälliger Hintermann aufgefordert fühlt, mir mit seinem Wagen und aller Wucht in die Hacken zu preschen, so dass der Ruck die flüssigkeitsregulierenden Gefäße in meinen Schulterblättern jäh zerbersten lässt und der ganz fuck Mücken-Muckefuck hinauf in meinen Kopf sprudelt, mir die Gedanken mit dem Gesabbele von tausend Mücken verwässert und ich denk’ auf einmal nur noch: Blut. Blut!
Blut!! Und betrachte die spätsommerlich verbliebenen Reste unbedeckter Haut an meinen Mitkunden mit ganz anderen Augen. Blut!!! denke ich nur, Blut!!!! und sage zu mir: »Also, wenn du dich jetzt nicht zusammenreißt, steht morgen ’ne ganz fiese Geschichte in der Zeitung.«

Aber ich reiße zusammen, was zusammengerissen gehört, zahle souverän, stecke nicht benötigte Treueherzen in mein Portemonnaie und denke noch in der Tür: »Na, für soviel Selbstbeherrschung wäre ja zumindest mal’n bisschen Applaus drin gewesen!«

Schon gut, da muss jetzt niemand für die Kaiser’s-Kunden einspringen.
Dafür wäre es nun ohnehin zu spät, denn jetzt, da es wieder Winter wird, öffne ich ein letztes Mal bei grell erleuchtetem Zimmer die Fenster, lasse hineinsurren, was sich vom Lichte betört fühlt und lade die Restpopulation des Friedrichshainer Insektensommers ein, in der unter meinen Dauneninlets gespeicherten Körperwärme zu überwintern. Und dann setze ich mich an die Kante meiner zum Gliedertierwinterquartier umfunktionierten Beischlafarena, öffne die Schleusen meiner Hirnwindungen, lasse Muckefuck hervorsprudeln und sirre Gutenachtgeschichten.

Schlaft gut, Kinder.

- siebter Text/Aufnahme 2007 und früher



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