Im Schwitzkasten von Mike Deter
Transpiration - das wäre mein Geschäft. Ich verstehe mich gut und immer besser darauf, das Laborieren meiner Körperlichkeit aufs Heftigste kondensieren zu lassen - es läuft halt gut bei mir, was daran liegen mag, dass ich einen Teil meiner Kindheit im Schwitzkasten von Mike Deter verbracht habe.
Mike, das war der Tiger unserer Siedlung, der pirschte umher, suchte nach Streit und fand immer alles, was er benötigte, um nicht nur mich - aber gerne mich - in Streitereien zu verwickeln und zum Finale in seinen gefürchteten Schwitzkasten zu nehmen. Da keuchte man dann in Deters Klammer, ölte aus, was das Zeug nicht mehr hielt, und doch: Ich zögerte stets ein paar sauerstofflose Sekunden unter Deters Anorak, bevor ich auf sein Angebot: „Gibst Du auf!? Gibst Du auf!?“ einging und aufgab.
Vielleicht sind es just jene Sekunden des Hinauszögerns, mein kindliches Verständnis von Tapferkeit, ja vermutlich sind es diese Sekunden, die Schuld daran tragen, dass ich heute nicht mehr von Mike Deter loskomme. Denn obschon Deter unlängst meines physischen Wahrnehmungshorizontes entschwunden, packt mich regelmäßig ein Phantom seines unerbittlichen Würgegriffs, sobald es warm, heiß oder eng wird, dann bläht sich mein Kehlsack zu einem sehnigen Rohr auf, das sich in altgewohnter Manier um den Hals legt, zudrückt und nicht locker lässt. Ja, der Schwitzkasten, was sollte man es abstreiten: Ich trage Mike Deters Unterarm als Kindheitstrauma mit mir herum.
Nun, damit kann man leben und schlägt sich so durch, hoffend, dass die hiesige Gemäßigte Klimazone sich ihres Rufes besinnt und von Verirrungen in die höheren Bereiche des Thermometers absieht. Doch wie man weiß, sind unsere Sommers stets etwas unproportioniert. Da mag in den Gazetten vom „kühlsten Sommer seit ´47“ gekrakelt werden - auch dieser bärge noch genug Tage in sich, an denen jede Bewegung zuviel ist, der Mensch schweißt und der traumatische Mike Deter bei mir zum Schwitzkasten ansetzt.
Erst heute morgen verspürte ich das verdächtige Zucken im Kehlsack bei einer Fahrt mit der Buslinie 47, die, wie es scheint, insbesondere von älteren Menschen gern genutzt wird, die ihre Restanwesenheit vergegenwärtigen müssen durch die völlig aus der nicht vorhandenen Luft gegriffene Vermutung, es würde hier irgendwie ganz schrecklich ziehen. Da wurden die Fenster geschlossen, da frohlockte der Deter’sche Arm unter meinem Kinn, schwoll zu ganzer Muskelpracht und schnürte Sauerstoff- wie Blutzufuhr auf ein Minimum - Zeit, sich einen Sitzplatz zu suchen. Die Wahl fiel, weil ebenfalls nicht vorhanden, auf einen jener Vierersitze, auf denen man sich direkt gegenüber sitzt und die ganze Fahrt lang überlegt, wie man sich mit seinen Blicken beschäftigen soll, um nicht in Verdacht zu geraten, in der Intimsphäre seiner Platznachbarn hausieren zu wollen. Mein Gegenüber war in diesem Fall und Bus eine Mittdreißigerin, dezent unauffällig bis auf die Tatsache, dass auch sie einen männlichen Unterarm unter der Kinnlade mit sich umher trug. Mir schwante, dass solch ein Zusammentreffen zwangsläufig in ein Gespräch münden würde, weshalb ich mich sputete, die Tageszeitung vor mir als Sichtschutz auszubreiten, doch zu spät - sie hatte mich und Mike Deters Unterarm bereits erspäht und auch schon Luft geschnappt zur Kontaktaufnahme in Form von:
„Ist das auch ein Scheidungstrauma?“
„Äh?“
„Der Arm! Unter ihrem Kinn. Das ist doch ein Scheidungstrauma!?“
„Nee, diss is eigentlich`n Kindheitstrauma.“
„Ach, so was gibt es auch?“
„Schon, ja. Und bei Ihnen?“
„Scheidungstrauma. Das ist jetzt schon alles drei Jahre her, aber ich komme einfach nicht von ihm los.“
„Hmhm. Das kenne ich.“
„Ich hätte damals nicht so früh aufgeben dürfen. Ich hätte länger um uns kämpfen müssen.“ Länger kämpfen? Später aufgeben?
„Äh, das ist bei mir genau andersherum! Ich habe dieses Trauma, weil ich damals zu spät aufgegeben habe. Ich hätte mich eher geschlagen geben sollen.“
„Na, da sieht man mal!“
„Ja, wie man’s macht, macht man’s falsch!“
„Leider ist es mir unmöglich, dieses Gespräch mit Ihnen fortzuführen. Seit der Scheidung von meinem Mann ist es nämlich so, dass, immer wenn ich mich mit einem jungen Mann unterhalte, mir derart das Wasser im Munde zusammenläuft, dass ich mich ständig verschlucken muss! Teil meines Traumas!“
„Kann ich gut nachempfinden – ich habe ja auch so meine Schwierigkeiten mit den Flüssigkeiten, rein äußerlicher Natur: Ich transpiriere an manchen Tagen derart, dass mich die Schwere meiner durchnässten Kleidung vom Sitzplatz zieht und ich damit aus dem Sichtfeld meiner Gesprächspartner rutsche.“
„Schade! Dabei hätte dies so ein gutes Gespräch werden können!“
„Ja, schade!“
„Ja...!“
„Ja.“
„Ja.“
Ja! Aber ich mag nun mal keine „guten Gespräche“ in meinen Texten! Altes Dichtertrauma, wissen Sie? Tun Sie doch am besten so, als hätten sie es gar nicht gehört. Danke.