Die Nacht im Blutbett des Schwagers (ganzer Text)
Selten, dass jemandem der Tag des Gebrochenen Brotes mehr bedeutet als die Mußestunden eines allgemeinen Feiertags. Für einige minderheitige Volksgruppen unseres Landes hat bzw. hatte dieser Tag jedoch eine weit tiefergehende Bedeutung. Daran gilt es zu erinnern.
Durch eine erzwungene Hochzeit, die mich damals vollends aus meinem bereits an diffuser Beliebigkeit darbenden sozialen Umfeld riss, wuchs ich eine Handvoll meiner Lebensjahre im Kreise der Kaffeespeier, nun, nicht auf - aber doch ein gehöriges Stück weiter. In jener rührigen Gemeinschaft derer, denen das Brauchtum des Kaffeespeiens noch Zweck und Gebot ist, die sich also wider jede Verstandesregung ihr Leben mit dem Speien abgestandenen Kaffees verpfuschen, in jener Gemeinschaft, der auch eben die Familie meiner aufgezwungenen Gattin zugehörte, fand ich Wärme und das, was man „Herzlichkeit“ nennen könnte oder würde, wenn man nach einem solchen Wort ernsthaft suchte.
Der Tag des Gebrochenen Brotes wird von jenen Menschen unter dem Titel „Dankfest der Kaffeespeier“ stürmisch befeiert, soweit eben möglich in einem Kreise, in dem Ärmlichkeit ein täglicher Gebrauchsgegenstand geworden ist. Da treffen weitgereiste Familienmitglieder aufeinander, flößen sich unter ständigem Austausch gemeinschaftsstiftender Zärtlichkeiten Unmengen des braunen Trunks ein und speien dann fässerweise das aus, was bei Einhaltung der traditionell überlieferten Mischungsverhältnisse „Gespeiter Kaffee“ oder „Gespiener Kaffee“ genannt werden darf. Mit ihrem Dankfest beenden die Kaffeespeier die Jahreszeit der Arbeit und verbringen die verbleibenden Tage des Jahres damit, ihr Produkt jenen unterzujubeln, die sich zu bequem sind, ihren Kaffee selbst zu speien und zu arrogant, um auf die industriell gefertigten Varianten in den Supermarktregalen zurückzugreifen.
Das Dankfest fand gewöhnlicherweise in dem Hause meiner Schwiegereltern statt, in welchem neben diesen auch mein Schwager Bernd wohnte. Bernd verstand es, diesem durch Ritualität geweihten Fest eine heitere Note zu verleihen, indem er fortwährend plumpe Späße und eine Reihe von nicht unbedingt geistreichen, auf ihre Art aber amüsanten Witzen zum Besten gab, womit er diesen langweiligen Blödsinn einem Maß der Erträglichkeit annäherte. Jedenfalls was mich anbetraf. Ja, wie habe ich Bernd und sein sonniges Gemüt vermisst, als ich in meinem letzten Jahr bei den Kaffeespeiern das Dankfest über mich ergehen ließ...
Bernd war in jenem Jahr - exakt einen Monat vor dem Tag des Gebrochenen Brotes - an den Folgen eines tragischen Irrtums verstorben. Man muss wissen: Bernd litt an einer schweren Rot-Gelb-Blindheit und konnte eine beinahe hundehafte Folgsamkeit gegenüber seinen Eltern nie recht abschütteln. Und so kam, nun, was nicht kommen musste, aber irgendwie ja doch...
An einer ordinären Erkältung erkrankt und die sicherlich gut gemeinten Worte der Mutter in seinem schwachbesetzten Hirnbrocken verinnerlicht - er solle ohne Erbarmen das gelbe Zeug, diesen sich zur Gallertartigkeit verfestigenden Schleim ausschnaufen, denn der käme aus den Stirnhöhlen, dem eigentlichen, brodelnden Herd seiner Krankheit, dort, wo jene gelbe, luftraubende Suppe vor sich hinköchelt, die rausgeschnauft werden muss und zwar ganz und gar, komme, was wolle - all jene Hinweise der Mutter für bare Münze nehmend, aber bar jeder Fähigkeit, realitätsnahe Unterscheidungen zwischen den Farben Rot und Gelb wahrzunehmen, blies und schnaufte der bereits für die Nacht zurechtgemachte Schwager, gewissenhaft und im tiefen Glauben an die genesende Wirkung seines Tuns, sich das Blut aus dem Kopf.
Die herbeieilenden Eltern, durch das Vernehmen eines Wimmerns in ihrer Neugier gerührt, waren außerstande, den bereits im Todeswahn vor sich hinschnaufenden Bernd zu stoppen. Und so trompetete der Schwager eine letzte Fontäne jenes roten - eben nicht gelben - Saftes aus seinem fahlgrauen Gesicht, ließ endlich sein überlastetes Taschentuch auf die Matratze niederklatschen, nahm kläglich seufzend eine schlafgerechte Position ein und schlief dahin. Und weg und aus. Was für ein Ende für einen Kaffeespeier. Und was für ein Ende für Schwager Bernd.
Mir, der ich für meine stillen Sympathien gegenüber Bernd bekannt geworden war, wurde alles Beileid der Erde geschenkt, als sich einen Monat darauf die Kaffeespeier zu ihrem Dankfest versammelten. Meinen Schwiegereltern kam gar die aberwitzige Idee, mir Bernds Bett in Würdigung unserer Freundschaft als Schlafstätte zuzuteilen. Die Nacht in jenem Bett wie das gesamte Fest an sich schossen in ihrer Unerfreulichkeit weit über das gewohnte Maß hinaus...
Die in dem schlecht durchlüfteten Schlafraum klamm gebliebene Matratze barg noch genug Flüssigkeit in sich, dass sich um Hüfte, Kopf und Schulterblatt kleine Pfützchen aus der Matratze pressten. Meine Schlafversuche hatten zudem gegen ein nervenaufreibendes Tröpfeln anzukämpfen, welches von jenen Plasma-Reservoirs herrührte, die, durch mein Körpergewicht aus ihren einmonatigen Schlummer gerissen, den Weg nach unten eingeschlagen hatten und nun auf den Bodenfliesen eine geeignete Resonanzfläche fanden.
Als ich mich unter das Bett beugte, um dort eine der schwiegerelterlichen Badematten als Aufprallschutz für das niedertropfende Blut auszulegen, wurde mir gewahr, dass sich in einer Wölbung im Fußboden eine Lache verschwägerten Blutes angesammelt hatte. Das Sonderbare daran war, dass in der Mitte jener Lache ein kleiner blasser Fisch umherschwamm, dem ganz offensichtlich das innert eines Monats durch die Matratze gesickerte Blut einen äußerst bescheidenen Lebensraum bot. „Wie gewonnen, so geronnen!“ scherzte es mir dümmlich durch den Kopf. Dann ergriff mich Mitleid. Behutsam stupste ich den kleinen Freund in meinen Zahnbecher, füllte denselbigen mit Frischwasser und verbrachte eine geschlagene Stunde damit, zu beobachten, wie die Lebensgeister des Grätentiers nach und nach wiedererwachten. „Ein Blutfisch“, dachte ich mir. „Vermutlich eine bislang unentdeckte Spezies. Eine unergründbare Laune der Natur...“
Guten Glaubens, der Menschheit damit irgendwie weiterhelfen zu können, informierte ich den amerikanischen Nachrichtensender CNN über meine Entdeckung. (Meine Kühnheit, zu nachtschlafender Zeit eine Blutfischstory anbieten zu wollen, wurde glücklicherweise durch die interkontinentale Zeitverschiebung vertuscht.) Man erwies mir alle Höflichkeit und stellte sogar einen Dolmetscher zur Verfügung, der jedoch - ob durch Unaufmerksamkeit oder fehlende Erfahrung - Einiges durcheinander warf. Nein, so ließ man mir letztendlich mitteilen, an dem Fisch sei man leider nicht interessiert, jene von mir aber so einfühlsam gestaltete Wortform „Blutbad“ hielte man für eine aussichtsreiche Erweiterung des Vokabulars, deren Nutzungsrechte man gerne für mich verwalten würde.
Nun unterlaufen einem in der Hektik eines Überseegesprächs sicherlich eine Vielzahl von Ungenauigkeiten - ein Wort wie „Blutbad“ war mir dabei aber gewisslich nicht über die Lippen gekommen. Ob es nun an der ähnlichen Aussprache des deutschen „Bett“ und des englischen „bad“, welches ja so wie das deutsche „Bad“ geschrieben wird, gelegen hat, so dass der Dolmetscher eventuell von „Blutbett“ auf „Blutbad“ schloss – sei’s drum. Seit jeher jedenfalls bin ich Inhaber der Verwertungsrechte an dem Ausdruck „Blutbad“, welche von CNN in meinem Auftrage treuhändlerisch verwaltet werden.
Durch die permanente Verwendung jenes auf das Blutbett meines Schwagers Bernd zurückgehenden Ausdrucks und der damit einhergehenden Tantiemenausschüttung war es mir nicht nur möglich, mich aus dem aufgezwungenen Ehe-Verhältnis zu der Kaffeespeierin freizukaufen, nein, ich gründete sogar ein kleines, recht erfolgreiches Handelsunternehmen in der Softwarebranche.
Als ich nun aber kürzlich von einer Reise zurückkehrte, musste ich feststellen, dass mein Blutfisch in der Zwischenzeit aus seinem Zahnbecher herausgeschwupst und auf dem Fenstersims verdorrt war. Der Nachbar, der sich eigentlich um die Pflege meines Fisches hatte kümmern wollen, war durch einen unverschuldeten Motorradunfall in allerschwerste Mitleidenschaft gezogen worden und außerstande gewesen, seine Aufgabe erwartungsgemäß wahrzunehmen. Wie in so vielen Fällen entschied auch hier der Zufall über Glück und Pech, über Leben und Tod. So füttert die Zeit unseres Fortbestehens fortwährend den Schlund der Vergangenheit, in dem auch unlängst die Sippe und Bräuche der Kaffeespeier auf ewig entschwanden.
Und wenn ich an Tagen wie heute, an einem Tag des Gebrochenen Brotes, einen leichten Durst auf frischen, mundwarmen Gespeiten Kaffee verspüre, dann nicht, weil mir - wie so vielen in unserem Lande - der Blick auf altbackene Blödsinnigkeiten durch heimelige Melancholie verklärt wäre. Nein, wenn ich an Tagen wie heute ein Glas gespeiten Kaffees vermisse, dann ist das allein wegen Dir, lieber Bernd.